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Vernon Lee

Vernon Lee, 1856 unter dem Namen Violet Paget geboren, war im Gegensatz zur 22 Jahre jüngeren Helene Herrmann keine Akademikerin im herkömmlichen Sinne. Zwar war sie eine kosmopolitische Intellektuelle und verfasste wissenschaftliche Texte auf den Gebieten der Kunstgeschichte, der Psychologie, der Ästhetiktheorie, der Soziologie, der Philosophie, der Musik- und der Literaturwissenschaft, aber sie hatte eine rein private Ausbildung genossen und verdankte ihr breites Wissen vor allem ihren auto-didaktischen Studien und selbständigen Recherchen. Obwohl ihre Veröffentlichungen unter anderem in Fach-Kreisen rezipiert, rezensiert und zitiert wurden, blieb Vernon Lee ohne offizielle akademische Anerkennung, bis 1924 die University of Durham die damals 68-Jährige mit der Ehrendoktorwürde auszeichnete: "as a deacon of the craft and a learned teacher, in both senses a Doctor of Letters". (i)

Wie Helene Herrmann oder Lydia Wahlström, von der wir noch hören werden, ist auch Vernon Lee eine zu Unrecht fast vergessene Gelehrte. Die Betonung liegt in diesem Fall auf dem 'fast'. In Anspielung auf Vernons berüchtigt scharfe Zunge, schreibt Dame Ethel Smyth ein Jahr nach Lees Tod: "Diese exquisite Toledo-Klinge wurde nicht geschmiedet, um in einem Graben zu verrosten". Mittlerweile hat sich zumindest die feministische Anglistik diesen Satz zu Herzen genommen und ist dabei, Vernon Lee ‚aus dem Graben', in dem sie für Jahrzehnte verschollen war, wieder herauszuholen.

Ich möchte sie Ihnen nun näher vorstellen, indem ich ebenfalls auf die drei von Frau Schabert kurz skizzierten Kategorien zurückgreife. In einer Kategorie allein ist Vernon Lee nicht unterzubringen, denn sie "gab sich wissenschaftlich wie ein Mann" UND "sie gab sich als Frau" UND "sie verstand sich als 'anders'", wenn auch nicht ganz in der bereits dargestellten Weise. Vernon Lee, so könnte man es vielleicht zusammenfassen, war - nicht nur was ihre sexuelle Präferenz des zölibatären Lesbentums anbelangt - 'anders anders'.

Beispiele dafür, dass sich Vernon Lee wie ein Mann gab, sind leicht zu finden. Abgesehen von ihrer Vorliebe für Männerkleidung und kurzgeschnittenes Haar wäre da zunächst die Wahl des männlichen Pseudonyms. Die damals Zwanzigjährige begründet diese Entscheidung in einem Brief an eine Freundin. Dort heißt es: Zitat - "[...] I am sure that no one reads a woman's writing on art, history or aesthetics with anything but unmitigated contempt." (ii) 1880, zwei Jahre nach dieser Einsicht, dass für eine auf diesen Gebieten schriftstellerisch tätige Frau 'mit nichts anderem als vollkommener Verachtung' zu rechnen sei, publiziert Lee ihr Buch Studies of the Eighteenth Century in Italy. Sie machte sich damit schlagartig einen Namen als ernstzunehmendER WissenschaftlER auf einem fast vergessenen, von der damalige Forschung beinahe vollständig ignorierten Gebiet. Nicht nur der Stil dieser Studie wird von Kritikern als 'gelehrt, subtil, einfallsreich und eloquent' gelobt. Der unbekannte, aber wie selbstverständlich ‚männlich' imaginierte Autor wird auch für - Zitat - "die Ernsthaftigkeit seiner Studien und die Geduld in der Forschungsarbeit" gepriesen. Als schließlich bekannt wird, dass dies Lob keinem Nachwuchs-Gelehrten, sondern einer jungen Frau gebührt, die nicht akademisch ausgebildet ist, sondern sich ihr Wissen selbständig durch Lektüre und Nachforschung in Archiven erworben hat, ist es zu spät, all die positiven Reaktionen zurückzunehmen. Lees Strategie, sich 'als Mann' auszugeben, war aufgegangen.

Ein genauerer Blick in die Einleitung dieses Buches zeigt, wie sich Lee einer Rhetorik bedient, die auf intrikate Weise die 'weibliche' Schreibstrategie der Bescheidenheitsgeste und die 'männliche' Strategie der Selbstermächtigung des souveränen wissenschaftlichen Autors kombiniert. Zunächst entschuldigt sie sich für die Inkohärenz in der Darstellung ihres Themas. Die als Gestus der 'konventionellen Weiblichkeit' beschriebene 'Bescheidenheit des Tons' verbindet sich an dieser Stelle mit dem Verweis auf die Begrenztheit der Betrachterperspektive und mündet in das Eingeständnis der relativen Bedeutungslosigkeit der vorgelegten Studie. Sie verweist auf die angebliche Unvollständigkeit bzw. die Irrelevanz des Behandelten und bezeichnet den zugrundeliegenden Plan, Musik und Literatur in einem einzigen Buch verhandeln zu wollen, als 'Wahnsinn'. Doch dann wird nahtlos dazu übergegangen, auf die Stärken des transdisziplinären Ansatzes hinzuweisen. Darüber hinaus nimmt Lee - plötzlich vollkommen frei von der eben noch geübten Demut - für sich in Anspruch, mit ihrer Studie endlich eine peinliche Lücke in der Forschung gefüllt zu haben. ‚Weil die Herren Spezialisten das 18. Jahrhundert in Italien als Thema nicht recht wahrnehmen, oder weil sie sich nur mit verstaubten Details aufhalten', so könnte man etwas frei übersetzen, tritt nun Vernon Lee an, um sich der Erforschung dieser Leerstelle zu widmen. Während 'der unbekannte Autor Lee' dabei auf der einen Seite um Pardon für das Eindringen in ein Gebiet ausgewiesener Profis bittet, wird auf der anderen Seite gleichzeitig die Forderung gestellt, als Spezialist ernst genommen zu werden. Der rhetorische Clou hierbei ist, dass das von Lee beanspruchte 'Spezialistentum' vom akademischen Establishment ja noch in keinster Weise bestätigt oder anerkannt ist, sondern, paradoxerweise mit genau dem Text erst hergestellt werden soll, in dessen Einleitung es bereits in Anspruch genommen wird. Effekt dieses kunstvollen argumentativen Zirkels ist Lees Selbstautorisierung als Fach-'Mann' für die italienische Kultur des 18. Jahrhunderts.

Anhand eines jener Kriterien, die als 'klassisch weiblich' kategorisiert wurden, lässt sich besonders gut nachvollziehen, wie Vernon Lee es erreicht, 'auf andere Art anders' zu sein. Ich spreche von 'positivistisch konkreter Faktensammlung' in Tateinheit mit 'hingebungsvoller Detailsicherung'. In einem der Kapitel in Studies of the Eighteenth Century in Italy, das vor Fakten und Details nur so strotzt, vollzieht Lee die 1770 unternommene Italienreise des berühmten und von ihr bewunderten Musikologen Charles Burney nach. Doch ihr geht es nicht darum, Fußnoten zu seinem Werk beizutragen, sondern darum, durch den Bezug auf die anerkannte Koryphäe ihrem eigenen Text Autorität zu verleihen. Indem sie Burney zu ihrem imaginären 'ciccerone' macht, tritt Lee zwar gewissermaßen in seine musikhistorischen Fußstapfen. Doch weit davon entfernt, sich mit der Rolle eines weiblichen Gehilfen zu begnügen, nutzt sie Burneys wissenschaftliche Arbeit als Folie, um sich - gestützt durch Ergänzungen, Korrekturen und Neukontextualisierungen - als selbstbewusste Nachfolgerin mit eigenen Thesen einen Namen auf demselben Gebiet zu machen. Auch wenn Lee in 'mühseliger Kleinarbeit' verfährt, ist ihre 'feine Genauigkeit' immer die der Fachfrau. Lee geht es nicht um 'die Beweise für männliche Theorien und Thesen', sondern - und zwar von Anfang an - um die ihrer eigenen.

Auch wenn Lee keine engagierte Suffragette war und sich lange Zeit weit vom explizit emanzipatorischen Lager distanzierte, kann man ihr einen grundsätzlichen Mangel an weiblicher Solidarität, wie er als typisch für Frauen beschrieben wurde, die sich als akademische Männer geben, nur bedingt unterstellen. Auch wenn sie immer wieder betont, sie verstehe sich in erster Linie 'als Mensch', nicht 'als Frau' (iii), machen viele ihrer gedruckten Widmungen deutlich, wie wichtig ihr der 'schwesterliche' Austausch mit einer ganzen Reihe von Frauen war. Außerdem veröffentlichte sie eines ihrer ehrgeizigsten Bücher, Beauty and Ugliness zusammen mit ihrer Freundin Kit Anstruther-Thomson und versah eines von Kits Soloprojekten mit einer über 100 Seiten langen Einleitung.

Auf der anderen Seite ist es unleugbar, dass Lee sich den Autoritätsgestus des ‚männlichen' wissenschaftlichen Diskurses über die Jahre vollends zu eigen gemacht hatte. Die unantastbare Überlegenheit der belehrenden Kritikerin ist in The Handling of Words von 1923 voll entfaltet. Nicht nur den majestätischen Plural eines Autors, der sich selbst Maßstab aller Dinge wähnt, kann man hier finden, sondern auch epigrammatische Sätze wie diesen: "Das Bewusstsein des Lesers ist die Palette des Autors. [...] (Fußnote) Ich möchte, dass diese nützlichen Formeln auswendig gelernt werden." (iv) Gerade dieses Buch vertritt den didaktischen Anspruch, Wissen über die Funktionsweise von Literatur allgemein zugänglich zu machen. Doch wieder geht diese Aufgabe der Popularisierung von Wissen, die zu Anfang als 'weiblich' charakterisiert wurde, bei Lee mit Gesten einher, die in ihrem dogmatischen Absolutismus wohl eher als 'männlich' zu beschreiben sind. Vernon Lee, ich sagte es eingangs, war eben 'anders anders'.

Sylvia Mieszkowski


i Letter to Henrietta C. Jenkin 18th December 1878 quoted in: Gunn, Peter, Vernon Lee. Violet Paget 1856-1935, (London, 1964), p. 221.
ii Gunn, p. 66.
iii Lee, "The Economic Parasitism of Women", in: Gospels of Anarchy and other contemporary studies, (London, 1912).
iv Lee, The Handling of Words, (London, 1923), p.41.

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